Von so niedrigen Inflationsraten wie in der Schweiz können andere Europäer nur träumen. Die Bevölkerung zahlt außerhalb von Krisenzeiten aber einen hohen Preis dafür.
04.07.2022 Update: 04.07.2022 - 08:48 Uhr Kommentieren
Während die Lebensmittelpreise in der Euro-Zone und den USA im Jahresvergleich um rund zehn Prozent gestiegen sind, blieben sie in der Schweiz fast konstant. (Foto: dpa)
Genf Wer in Deutschland unter den steigenden Preisen für Energie und Nahrungsmittel ächzt, reibt sich beim Blick in die Schweiz die Augen: Strom, Brot, Gemüse – alles fast wie immer. Die Verbraucherpreise sind im Juni im Jahresvergleich um gerade Mal 3,4 Prozent gestiegen, wie das Statistikamt am Montag mitteilte. Auch wenn die Inflationsrate in der Schweiz damit zum ersten Mal seit 14 Jahren über drei Prozent liegt: In Deutschland, der Euro-Zone und den USA waren es 7,9 Prozent und mehr, so viel wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Sind die Schweizer also zu beneiden?
Man könnte es meinen. Zum einen ist die Währung stark. „Wenn der Schweizer Franken aufwertet, werden importierte Güter für Verbraucher billiger“, sagt Alexander Rathke von der Konjunkturforschungsstelle der Universität ETH. Dieser Effekt erkläre aber höchstens einen Prozentpunkt der Inflationsdifferenz. Tatsächlich profitieren die Schweizer in Krisenzeiten, wenn Preise weltweit in die Höhe schnellen, von hohen Importzöllen auf Lebensmittel und Agrarprodukte und bei Strom und Gas von Preiskontrollen.
Während die Lebensmittelpreise in der Euro-Zone und den USA im Jahresvergleich um rund zehn Prozent gestiegen sind, waren sie in der Schweiz fast konstant. „Durch die protektionistischen Maßnahmen sind die Schweizer Nahrungsmittelpreise von der Entwicklung auf dem Weltmarkt abgekoppelt“, sagt Maxime Botteron, Analyst der Bank Credit Suisse.
Die Schweizer heben den Preis für ausländische Agrarprodukte, die auch im Inland hergestellt werden, durch Importzölle auf das höhere Schweizer Niveau, um heimische Getreide-, Obst- und Gemüsebauern vor ausländischer Konkurrenz zu schützen. „Wenn der Preis für Güter, die wir selber produzieren, am Weltmarkt steigt, sinkt nur der Zoll“, sagt Rathke
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Allerdings zahlen die Schweizer in Zeiten ohne Krisen auch einen hohen Preis: „Die Preise sind zwar jetzt stabiler, dafür ist das Preisniveau aber auch sonst immer höher“, sagt Rathke. Für Lebensmittel, die in den Nachbarländern zehn Euro kosten, seien in der Schweiz umgerechnet 18 Euro fällig. Weil 2021 die Schweizer Ernte schlecht war und in dem Fall fehlendes Getreide, Obst und Gemüse ohne hohe Importzölle importiert werden konnte, gab es sogar Schnäppchen: „Weil Tomaten aus Spanien und andere Nahrungsmittel aus dem Ausland billiger waren, fielen die Preise“, sagt Botteron.
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Die Schweiz deckt ihren Strombedarf fast ganz aus Wasser- und Atomkraft, während in Deutschland viel Strom mit Gas produziert wird. Nur im Winter muss die Schweiz Strom importieren, dann könnten sich höhere europäische Preise auswirken. Verbraucher merkten das aber nicht sofort, sagt Botteron, weil Stromversorger den Preis in der Regel einmal pro Jahr festlegen. „Das verzögert den inflationären Effekt.“
Inflationsberechnung: Die Schweiz hat einen anderen Warenkorb
Hinzu kommt, dass die Warenkörbe sich unterscheiden, anhand derer die Inflation berechnet wird. Sie richten sich danach, wie viel Geld die Menschen im jeweiligen Land im Durchschnitt für welche Produktkategorie ausgeben. Im Schweizer Warenkorb machen Energiekomponenten wie Erdöl, Strom und Gas nur fünf Prozent aus, während es in Deutschland knapp zehn Prozent und in den USA sieben Prozent sind. Der Anstieg der Weltmarktpreise bei Öl und Gas befeuern die Inflation in der Schweiz deshalb weniger.
Dasselbe gilt für Lebensmittel. In der Schweiz liegt ihr Anteil im typischen Warenkorb bei 11,5 Prozent, in den USA bei 13 Prozent und in der Euro-Zone bei 15 Prozent. „Je wohlhabender die Menschen sind, desto kleiner der Anteil, den sie für Nahrungsmittel ausgeben“, sagt Rathke. Im Schweizer Konsumentenpreisindex schlägt dagegen die Gesundheitspflege mit fast 17 Prozent zu Buche, während es in den USA nur rund 8,5 und in der Euro-Zone rund 5 Prozent sind.
Zur besseren Vergleichbarkeit geben die Schweizer aber auch den in der Euro-Zone üblichen harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI) an, der im Juni bei 3,2 Prozent lag.
Schließlich gibt es strukturelle Gründe für die niedrigere Inflationsrate: Tendenziell sinken die Preise in der Schweiz eher, vor allem für Medikamente, aber auch für Möbel und Bekleidung, oder sie steigen zumindest nicht so stark wie in der Euro-Zone.
Das liegt unter anderem am Online-Handel, der inländische Händler unter Druck setzt, wie Botteron sagt: „In der Tendenz gibt es eine Anpassung in Richtung des Preisniveaus in der Euro-Zone.“ So gesehen ist eine Inflationsrate von um die drei Prozent für die Schweiz ein „extrem hoher Wert“, sagt Rathke.
- dpa